April 24, 2024

Teil 1: Interview – „Sie schulden uns eine Jugend!“

Seit Januar protestieren Studierende in der Türkei gegen Zwangsverwalter, die von Präsident Erdoğan als Rektoren eingesetzt wurden. Die Proteste entbrannten mit der Ernennung des AKP-nahen Melih Bulu zum Rektor der renommierten Bogazici (Bosporus) Universität in Istanbul. Wir als Resistance haben Absolvent:innen der Bogazici in Berlin getroffen, die von Deutschland aus die Student:innen in der Türkei in ihrem Kampf unterstützen

  1. Wer seid ihr?

Nihal: Mein Name ist Nihal. Ich habe an der Bogazici Universität Politikwissenschaft studiert und 2012 meinen Abschluss erworben. Seit 2016 lebe ich in Berlin und arbeite im privaten Dienstleistungssektor.

Mehmet: Mein Name ist Mehmet. Ich habe an der Boğaziçi Universität auch Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt internationale Beziehungen studiert und habe 2019 meinen Abschluss erworben. Seit August 2019 lebe ich in Berlin. Derzeit mache ich hier in Berlin meinen Master in Sozialwissenschaften. Nebenbei arbeite ich als wissenschaftliche Hilfskraft.

2. Wie hat sich der Bogazici Widerstand in Berlin formiert und wie geht es weiter?

Mehmet: Die hiesige Organisierung hat sich vielmehr spontan und von sich aus entwickelt und so schreitet sie auch derzeit voran. Es haben sich diejenigen zusammen gefunden, die hier leben und die Situation nicht ausgehalten haben und ihre Hochschule vermisst haben. Ich selbst gehöre auch zu denen, die etwas für „ihre Hochschule“ unternehmen möchten. Danach haben wir, also unterschiedliche Studierende, sich über WhatsApp-Gruppen oder über Facebook-Gruppen vernetzt und organisiert. So hat es angefangen und mit der Zeit haben sich die hier geborenen Berliner angeschlossenen und angefangen, uns zu unterstützen. Es hat sich also aus einer Gruppe von „Bogazici-Leuten“ eine umfassendere, jeden einbeziehende Bewegung entwickelt. Es gibt nun verschiedene dazugehörende Studierendengruppen, die aktiv sind – aber auch Menschen, die nicht studieren und z.B. zur Arbeiter:innenbewegung oder zur Bewegung der Kurd:innen gehören. Es kommen auch Vertreter:innen verschiedener Parteien zu uns, z.B. von der linksgerichteten und kurdennahen HDP oder der kemalistisch ausgerichteten CHP. Can Dündar kam zu uns (Anmerkung der Redaktion: Can Dündar ist ein türkischer Journalist, der sich kritisch gegenüber der aktuellen Regierung unter Erdoğan äußert und wegen politischer Verfolgung aus der Türkei geflohen ist). Die Bewegung entwickelt sich derzeit zu einer größeren Koalition. Das, was sich zunächst auf Bogazici beschränkte, weitet sich nun zu einem größeren Bündnis aus. Hinzufügen möchte ich aber auch, dass, wenn wir uns mit den Aktivisten hinsetzen und uns mit stark politischen Themen auseinandersetzen wie z.B. der Kurdenfrage, dann würden sich ganz schnell innerhalb der Gruppe erste Risse zeigen, da nicht jeder in der Gruppe einer Meinung ist. Es gibt bei uns aber gemeinsame Punkte beziehungsweise einen gemeinsamen Wert und das sind die Meinungsfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit. In diesen Punkten sind wir uns einig und agieren hierauf gebezogen einheitlich.

Nihal: Wir sind nun in unserer achten Woche angelangt. Es ist nach wie vor ein Prozess im Gange. Zunächst kamen die Absolvent:innen der Boğaziçi hier in Berlin zusammen. Unter Corona-Bedingungen gestaltet sich alles schwieriger. Erst nach der 3. Woche fanden dann Kundgebungen statt. Auf einmal kamen wir als Kollektiv zusammen. Nun reden wir, diskutieren, planen und entscheiden gemeinsam. Unser eigentliches Augenmerk ist aber auf jeden Fall der Widerstand in der Türkei. Wir richten uns klar nach dem dortigen Widerstand z.B. sind die Studierenden auch auf die Straßen in İstanbul – Kadıköy gegangen und haben außerhalb des Universitätsgeländes protestiert. Sie haben versucht sich mit den Widerstandsbewegungen der Arbeiter:innen in der Türkei zu solidarisieren. Ich möchte hier anmerken, dass weder der Widerstand noch die Solidarität oder die Absolvent:innen eine homogene Gruppe sind. Die Proteste finden weder unter der Führung der einen noch der anderen Partei statt und genau das, lässt das Ganze schwierig werden. Manche sagen, diese Sache solle nicht größer werden und sich auf „Boğaziçi“ beschränken. Andere wiederum sagen: „Nein, wenn der Widerstand beschränkt wird, wird dieser eingehen. Wir brauchen mehr Solidarität mit allen, die in der Türkei gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.“ Wir persönlich unterstützen und verteidigen die letztgenannte Ansicht. Wir haben deshalb in unserer 4. Woche einen Flyer herausgebracht mit der Überschrift „Gegen jegliche Zwangsverwalter“, wir haben eben nicht gesagt „Gegen den Zwangsverwalter“. Hierin soll sich jede Einsetzung von Zwangsverwaltern als Rektoren in kürzester Zeit widerspiegeln. Wir behaupten nicht, dass das ganze erst mit Boğaziçi begonnen hat und, dass Boğaziçi die wichtigste Institution in der Türkei ist. Denn derzeit finden auch andere Widerstände statt z.B. von Arbeiter:innen, die man genauso verteidigen muss.

 

  1. In Griechenland sind auch Studierende auf den Straßen. Die Proteste haben mit einem Gesetzentwurf begonnen, der vorsieht, dass an Universitäten eine Polizei eingesetzt werden soll. In Deutschland, im Bundesland Bayern, wird ein Hochschulgesetz diskutiert, welches Firmen den Weg in die Uni ermöglichen soll. Die Universitäten scheinen unter Beschuss der kapitalistischen Staaten zu sein. Was denkt ihr darüber?

Mehmet: Ich denke nicht, dass man das als „die Staaten gegen Universitäten“ begreifen sollte. Dieses Vorgehen interpretiere ich eher als global-wirtschaftliches System, das sich gegen die Menschheit richtet. Die Zeit, in der wir uns gerade befinden, halte ich für sehr wichtig. Es fühlt sich so an, als würden wir uns in einer Zeit voller gesellschaftlicher Veränderungen und Wandlungen befinden. Es existiert ein nicht funktionsfähiges System. Weder der Kapitalismus noch der damit beabsichtigte Profit laufen und funktionieren. Es wird dann phasenweise die gerade passende Errungenschaft z.B. „die Presse“ oder „die Menschenrechte“ ausgesucht und unter Beschuss genommen. Der Staat, der das dann vollzieht, ist das nötige Bindeglied, denn es besteht eine Verflechtung zum Kapital. Ich halte es deshalb für wichtig, die derzeitigen Widerstände als einheitlichen, globalen Widerstand zu verstehen. Es gibt derzeit z.B. in der Türkei nicht nur den Protest der Studierenden, sondern auch eine Bewegung, die sich für den Schutz von Naturgütern, wie Grund und Boden und für den Erhalt von Wäldern einsetzt. Außerdem gibt es sehr oft Streiks von Arbeiter:innen. Diese sind momentan so häufig wie noch nie zuvor. Das liegt insgesamt an der Unzufriedenheit der Menschen. Die Menschen sind so unglücklich und die Lage scheint so aussichtslos, dass diese Streiks und Bewegungen als Auswirkungen dieser unbefriedigten Situation sich zeigten. Auch die Hochschulreform in Bayern äußert sich, meiner Meinung nach, als Kampf der Menschen gegen den Staat und das Kapital. Die Auswirkungen dieses Kampfes spüren wir derzeit überall. Ich möchte hinzufügen, dass sich Generationen vor uns eine Zukunft innerhalb dieses Systems vorstellen konnten. Aber gerade in Anbetracht des Zustandes der Krise stellt sich für die heutige Generation als Hauptproblem das Bewusstsein heraus: „Das System, in dem ich lebe, ist menschenverachtend und ich kann in diesem System nicht (über-)leben.“ Die Angriffe des Staates haben sich genau deshalb gehäuft, sie wollen die Jugend mundtot machen, denn wenn die Jugend schweigt, schweigen alle. Das ist meine Ansicht.

Nihal: Diejenigen, die sich gegen den Neoliberalismus und Imperialismus stellen, sind die Studierenden. In Bezug auf Griechenland möchte ich folgendes besonders hervorheben: Die Linke in Griechenland ist sehr stark. Die rechte Regierung hat die Menschen vertrieben, die Privatisierung voranschreiten lassen. Die Menschen haben sich hiergegen sehr oft gewehrt, deshalb war dieser Gesetzesentwurf mit dieser Polizei für diesen Staat eine Notwendigkeit. Sie wollen verhindern, dass sich die Menschen erheben. Schließlich ist die Polizei der Beschützer des Staates. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass aber derzeit noch in Europa der Kampf im Gegensatz zur Türkei noch einigermaßen möglich ist. In der Türkei hingegen sieht es anders. Sobald man in der Türkei außerhalb der Universität gelangt, sieht man sich direkt mit einer Polizeiblockade konfrontiert. Diejenigen in der Türkei, die nur ansatzweise den Versuch eines Kampfes unternehmen, müssen mit harten Konsequenzen rechnen. Unsere Solidarität ist aber nach wie vor international und wenn wir uns nicht grenzenlos solidarisch zeigen, dann können wir nur erstarken.

 

  1. Die Universitäten erleben derzeit einen enormen Druck. Wie könnt ihr euch das erklären?

Mehmet: Ehrlich gesagt, kann ich mir das auch nicht so genau erklären. Ich denke nicht, dass die Staaten besonders klug handeln. Vielmehr stellt sich das für mich wie ein absoluter Kontrollverlust  dar und eher als zufälliger Angriff auf jegliche Institutionen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jetzt die Türkei speziell die Universitäten auf ihre Agenda geschrieben haben, so nach dem Motto „jetzt rotten wir die Universitäten aus“. Es existiert an sich ein Kampf gegen jede oppositionelle Bewegung und gegen jede Form der Organisation. Weltweit gibt es Anstrengungen, die Universitäten zu einem apolitischen Ort zu machen und die Jugend weitestgehend zu beruhigen, denn sie haben eine generelle Angst vor einer heranwachsenden radikalen und revolutionären Jugend.

Nihal: Vor 2015 war es den Studierenden an der Boğaziçi Universität noch möglich, sich auf Diskussionsforen zu treffen und sich zu vernetzen. Sie haben diesen freiheitlichen Freiraum jedoch Stück für Stück verdrängt. Die Boğaziçi Universität ist in der Türkei vielleicht das letzte Stück Freiheit. Schaut man sich die Geschichte der Türkei an, wird man erkennen, dass die Universitäten schon immer unter Beschuss des Staates waren.

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