April 27, 2024

Bomben auf Zivilist:innen – Erdogan als Verteidiger von Menschenrechten?

Es ist fast zur Gewohnheit geworden. Der türkische Präsident Erdogan bombardiert Kurd:innen. Oft haben wir diese Nachricht in den letzten Jahren gehört. Genau dieser Erdogan ist es, der jetzt als moralischer Held die israelischen Bomben auf Palästina verurteilt.

Die aktuellen Ereignisse in den kurdischen Gebieten zeigen einmal mehr das Desinteresse der westlichen Länder an einer Unterstützung der unterdrückten kurdischen Bevölkerung. Am 1. Oktober fand im Regierungsviertel in Ankara ein Angriff von zwei kurdischen Kämpfern der Brigade der Unsterblichen auf die Generaldirektion für Sicherheit des Innenministeriums statt. In einer Stellungnahme des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (Navenda Parastina Gel, NPG) wurde mitgeteilt, dass es sich bei dem Angriff um eine Warnung Richtung Regierungsparteien AKP und MHP handelt. Außerdem stehe er in Verbindung mit der Eröffnung des Parlaments und gegen das als Massaker- und Folterzentrum bekannte Gebäude in seiner Nähe. 

Die Aktion ist auch im Zusammenhang mit dem hohen Druck der türkischen Behörden auf jede Form des kurdischen Widerstandes zu verstehen. So gibt es seit nun 31 Monaten weder einen Kontakt noch ein Lebenszeichen von Abdullah Öcalan, dem seit 25 Jahren inhaftierten Vorsitzenden der kurdischen Befreiungsorganisation PKK. Andere friedliche Repräsentationen der kurdischen Bewegung, wie etwa die Partei HDP, stehen am Rande eines Verbots. Unmittelbar nach dem Vorfall in Ankara hatte die türkische Regierung Vergeltungsmaßnahmen angekündigt und auch schon durchgeführt. So kam es zu Verhaftungen von demokratisch legitim gewählten Politiker:innen und weiteren Menschen in der Türkei oder Angriffen auf Institutionen des kurdischen Volkes. Dem ging voraus, dass man die Ausbildung der besagten Angreifer auf das türkische Innneministerium in den autonomen Gebeiten in Nordsyrien gesehen hatte. Damit wollte man die entsprechenden Angriffe rechtfertigen. 

So kam es zu weitreichenden Bombardierungen von Rojava (kurdische Gebiete in Nordsyrien) und auch Versuchen von Invasionen am Boden. Wichtig ist, dabei auch zu erwähnen, dass speziell zivile Insfrastruktur ins Visier genommen wurde. Laut Mitarbeitern der Hilfsorganisation Medico International wurden Einrichtungen der Wasser- und Energieversorgung, Krankenhäuser, Schulen, Ölfelder, Fabriken und Warenlager beschossen. Hierzu zählen zum Beispiel das Corona-Krankenhaus im nordsyrischen Dêrik, das Elektrizitätswerk in Suwediya sowie wichtige Verteilerstationen für die Verwaltung der versorgungsessenziellen Staudämme. Unter den zahlreichen Opfern befanden sich auch Kinder. Zivilorganisationen begannen Mitarbeiter:innen zu evakuieren. 

Außerdem wurden in der Türkei internationale Delegationen festgesetzt bzw. im Anschluss abgeschoben. Diese waren vom Jugendrat der Grünen Linkspartei Yeșil Sol Parti (YSP) eingeladen worden und wurden von der türkischen Polizei bei einer von ihnen einberufenen Pressekonferenz in der Stadt Urfa im Bezug auf die jüngsten Angriffe der türkischen Armee festgesetzt. Während die kurdischen Aktivist:innen nach Anklagen erst einmal auf freien Fuß gesetzt wurden, mussten die ausländischen Aktivist:innen in Abschiebehaft, um auf ihre Abschiebung zu warten. 

Auch die Stadt Kobane, bekannt als Basis der YPG und als Zentrum des damaligen Widerstandes gegen den IS, wurde bombadiert. In der Stadt Asas im Norden Syriens starben fünf Zivilisten, darunter ein Kind. Die Selbstverwaltung appellierte an die internationale Gemeinschaft zu intervenieren. Die Arbeiter:innenklasse der Türkei, die das Herz der Wirtschaft der Türkei ist, wurde entsprechend zur Solidarisierung aufgefordert. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hatte zuvor am 3. Oktober bekannt gegeben, dass zivile Ziele im Nordirak und in Nordsyrien zum Abschuss freigegeben sind; das Ganze nur wenige Wochen nach der Invasion Aserbaidschans gegen die armenische Bevölkerung in Bergkarabach, bei der auch Erdogan unterstützt hatte. 

Rojava wurde infolge des syrischen Bürgerkrieges 2011 durch die gegen die Anhänger des IS kämpfenden Einheiten aus kurdischen, christlichen, assyrisch-aramäischen und anderen Parteien gegründet. Es sollte ein basisdemokratisches Gesellschaftsprojekt aufgebaut werden, welches auf Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionen und Ethnien beruht. Dem Projekt stehen die ständigen Angriffe des türkischen Militärs und seiner Verbündeten entgegen. Allein 2022 wurden bei den 130 türkischen Drohnenangriffen 87 Menschen getötet und 151 Menschen verletzt. 2018 besetzte die Türkei die westlichste der drei Regionen Rojavas und will eine 30 Kilometer lange Schutzzone um die türkische Grenze herum errichten. Verbunden damit ist die Vertreibung der lokalen Bevölkerung und die Ansiedelung der aus der Türkei abgeschobenen Syrer:innen. Ziel des türkischen Staates ist es, jegliche Selbstverwaltungen der kurdischen Befreiungsbewegung zu beseitigen und den politischen Feind vollständig kampfunfähig zu machen. 

Kritik von den Regierungen aus dem Westen wird am gemeinsamen NATO-Partner nur bedingt geäußert. Dabei bleibt es auch nur eine oberflächliche Kritik in Worten, die keinerlei Maßnahmen zur Folge hat. Das Auswertige Amt wollte sich zu den jüngsten Angriffen nicht äußern. Die USA, die mit 900 Soldaten weiter in Rojava präsent sind, konzentrieren sich lediglich auf die Bewachung der Ölfelder, eines ihrer bekannten „humanitären Ziele“ in der Welt. Erdogan verurteilte im gleichen Atemzug, in dem er seine erfolgreiche erste Phase der Aktionen gegen die Kurd:innen lobte, die Angriffe Israels auf Gaza. Diese Widersprüchlichkeiten und Heucheleien stellen jedoch keine Ausnahme dar in der kapitalistischen Politik.