April 26, 2024

Die Vertreibung von Armenier*innen in Bergkarabach

Wochenlang wurden sie bombardiert und jetzt müssen sie flüchten – die von Armenier*innen bewohnte Stadt Shushi/Şuşa in Bergkarabach wurde vom aserbaidschanischen Militär erobert. Wegen der strategisch sehr großen Bedeutung der Stadt, sah sich der armenische Premierminister gezwungen, einem Waffenstillstandsabkommen zuzustimmen, das praktisch einer Kapitulation gleichkommt und die Vertreibung tausender Armenier*innen bedeutet.

Die Vorgeschichte

Am 27. September 2020 startete der aserbaidschanische Staat mit Unterstützung des türkischen Staates eine Militäroffensive, um die von Armenier*innen bewohnte Region Bergkarabach zu erobern. Der Bergkarabach-Konflikt besteht seit dem Ende der Sowjetunion, zu der sowohl Armenien als auch Aserbaidschan gehörten. Ursprünglich lebten in der Region Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen friedlich miteinander. Doch nach der Auflösung der Sowjetunion bildeten sich Nationalstaaten und die Zugehörigkeit Bergkarabachs wurde zum Konflikt. Dabei setzte sich der armenische Staat militärisch durch. Alle Aserbaidschaner*innen flüchteten aus der Region, sodass bis heute nur Armenier*innen dort leben. Für die aserbaidschanischen Herrschenden ist es seitdem erklärtes Ziel, die Region zu erobern und mit Aserbaidschaner*innen zu besiedeln.

Die Eskalation

Über die letzten drei Jahrzehnte ist der Konflikt immer wieder hochgekocht, aber der diesjährige Angriff war eine neue Eskalationsstufe. Das aserbaidschanische Militär ist mittlerweile aufgerüstet und mit schlagkräftiger Waffentechnologie ausgestattet – unter anderem mit israelischen Kampfdronen. Die aktuelle Eskalation hat allerdings auch viel mit der aggressiven Politik des mit Aserbaidschan verbündeten türkischen Staates zu tun, der sich als Regionalmacht etablieren will und deshalb bereits in Syrien und Libyen an Kriegen beteiligt ist. Ein wichtiger geostrategischer Kampfplatz ist für den türkischen Staat auch der Kaukasus, wo er mehr Einfluss gegenüber dem russischen Staat gewinnen will. Der aserbaidschanische Staat dient dabei als militärischer Verbündeter und Wirtschaftspartner.

Der Waffenstillstand

Mit dem armenischen Staat ist eigentlich der russische Staat verbündet, von dem im aktuellen Krieg allerdings keine Unterstützung kam. Das liegt unter anderem daran, dass die jetzige armenische Regierung von Nikol Pashinyan sich in den letzten Jahren politisch nicht so verhalten hat, wie es der russische Imperialismus wollte. Allerdings ist eine Destabilisierung der Region und ein Machtgewinn des türkischen Staates auch nicht im Interesse des russischen Staates. Deswegen forderte er einen Waffenstillstand. Das Abkommen beinhaltet allerdings wichtige Erfolge für den aserbaidschanischen und den türkischen Staat: Der aserbaidschanische Staat darf alle eroberten Gebiete behalten und bekommt noch weitere zugesprochen. Dazu verspricht das Abkommen auch eine Landverbindung zwischen dem Hauptland Aserbaidschans und der Exklave Nachitschewan – weil armenisches Staatsgebiet dazwischen liegt, war bisher keine Landverbindung möglich. Auch der türkische Staat wird diese Landverbindung nutzen können, weil die Exklave Nachitschewan an türkisches Staatsgebiet grenzt. Damit hat die Türkei nun über Land einen Weg bis zum Kaspischen Meer. Diese Erfolge stärken den Regierenden den Rückhalt ihrer Bevölkerungen in Aserbaidschan und der Türkei.

Die Vertreibung

Schon jetzt sind tausende Armenier*innen aus Bergkarabach geflüchtet und weitere werden es noch tun. In ihren ehemaligen Wohnorten wird der aserbaidschanische Staat nun Aserbaidschaner*innen ansiedeln. Dazu kommt, dass momentan noch unklar ist, wie es mit den noch vom armenischen Militär kontrollierten Gebieten weitergeht. Noch leben zehntausende Menschen dort – unter anderem in der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert. Mit dem Waffenstillstandsabkommen ist zwar beschlossen, dass es keine weiteren Kämpfe um diese Gebiete geben soll, aber der aserbaidschanische und der türkische Staat könnten Versuche unternehmen, weitere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen.

Der türkische Staat ist Mitglied in der NATO und enger wirtschaftlicher und politischer Verbündeter des deutschen Staates. Trotz ständiger Kritik hält der deutsche Staat an der Zusammenarbeit fest und liefert weiter Waffen und Panzer für das türkische Militär, denn in der Außenpolitik kapitalistischer Staaten geht es nicht um Frieden und Menschen, sondern um wirtschaftliche Interessen. Deshalb gab es von anderen Staaten auch kaum Druck auf den aserbaidschanischen und den türkischen Staat, den Krieg zu beenden – die einzigen Zeichen der Solidarität kamen von Menschen und Bewegungen, die sich für Frieden aussprachen.

Die Zukunft

Während die aktuelle Lage für die betroffenen Armenier*innen einen Katastrophe ist, hat auch das aserbaidschanische Volk nichts gewonnen. Die wirklichen Profiteure sind die Herrschenden Aserbaidschans und der Türkei. Es sind auch die Herrschenden der beteiligten Staaten und die nationalistische Ideologie, die die Völker überhaupt erst in diesen Konflikt hineingeführt haben.

Um sich von Krieg und künstlich hergestellter Feindschaft zu befreien, müssen die Völker sich gegen die Herrschenden stellen; im Ausland, aber vor allem im eigenen Land. Sie müssen erkennen, dass sie gemeinsame Interessen haben und dass die Kapitalistenklassen, die Politik und ihre Medien dazu ausnutzen, um die Menschen auszubeuten und gegeneinander ausspielen. Sie müssen die nationalistische Ideologie bekämpfen, die davon spricht, Bergkarabach sei armenisches oder aserbaidschanisches Land. Land hat keine Nationalität. Und jahrhundertelang lebten die verschiedenen Völker dort und in der ganzen Region auch zusammen. Eine langfristige, positive Vision könnte eine Kaukasus-Föderation sein, die Nationalstaaten aufhebt, und den vielen Völkern ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Solch eine Vision müsste gegen den herrschenden Kapitalismus und gegen imperialistische Eingriffe erkämpft werden.

Momentan allerdings ist die politische Lage schlecht. In Armenien und Aserbaidschan sind fortschrittliche bzw. linke Kräfte sehr schwach und durch den Krieg ist der Nationalismus gestärkt. Es bleibt zu hoffen, dass sich mit dem Waffenstillstandsabkommen die Lage beruhigt, politische Veränderung möglich wird und dass international mehr Unterstützung für die Befreiung der Völker erkämpft wird.

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